dal (hebr.) – schwach, elend, arm; ani (hebr.) – geduckt, gedemütigt, elend, arm; evjon (hebr.) – arm, verarmt; tapeinos (griech.) – demütig, gering; tapeinosis (griech.) – Erniedrigung.

Die hebr. Terminologie für soziales Elend ist einerseits sehr differenziert, vgl. die fünf verschiedenen Begriffe in Ps 82,3 f, gilt aber andererseits einem sozial recht eindeutigen Phänomen.

dal bezeichnet verschiedene Aspekte von Schwäche und Elend wie etwa die mageren, armseligen Kühe im Traum Pharaos (Gen 41,19). Der liebeskranke Amnon wird gefragt:

Warum bist du, ein Sohn des Königs, Morgen für Morgen derart elend? (2 Sam 13,4). Vor allem geht es um sozial Verelendete, um Hilflose, die Pachtgeld … und Getreidesteuer nicht bezahlen können (Am 5,11). ani kommt von einem Verb her, das ducken bedeutet, wie sich ein Löwe zum Sprung duckt (Jes 31,4), dann aber auch niederducken im Sinne von demütigen (Gen 16,6), ja vergewaltigen (Gen 34,2). ani und das davon kaum zu unterscheidende Wort anaw bezeichnen entsprechend sozial gedemütigte und niedergedrückte Menschen, was wohl nicht selten schon an der äußerlichen Haltung zu erkennen war. Da gibt es den verarmten Tagelöhner (Dtn 24,14) oder das Gebet eines zu Boden gedrückten Menschen (Ps 102,1). evjon schließlich bezeichnet als einziger Begriff in dieser Reihe ausschließlich Menschen, die im sozialen und gesellschaftlichen Sinne arm bzw. verarmt sind. Es droht ihnen das Schicksal, in die Schuldsklaverei verkauft zu werden (Am 2,6). Bei allen drei Begriffen geht es um Menschen, die noch frei sind und ihre Lebensgrundlage, das Land, noch nicht verloren haben, also formal gleichberechtigt mit den Reicheren sind; doch wegen Überschuldung und anderer massiver Abhängigkeiten stehen sie auf der Schwelle zum Verlust von Freiheit und Land. Begrifflich werden diese Armen also unterschieden von anderen sozialen Randgruppen wie Witwen und Waisen, Sklaven und Fremden.

Mit ihnen zusammen und ähnlich wie sie stehen die Armen im Zentrum der Zuwendung Gottes. Ihnen gelten Schutz- und Sozialgesetze der Tora, wie Zinsverbot (Ex 22,24) und Schuldenerlass (Dtn 15,1-11). Ihnen gelten große Verheißungen: Die Gebeugten werden das Land besitzen (Ps 37,11; Mt 5,5). Aus ihnen erwächst das erneuerte Gottesvolk: Ich werde in deiner Mitte ein Volk übrig lassen, das arm und schwach ist (Zef 3,12). Ihnen gilt das Handeln des messianischen Königs (Jes 11,4). Wenn in Ps 82,3 f die Götter und Göttinnen aufgefordert werden, den Armen Gerechtigkeit zu schaffen, wird deren Geschick zum Maßstab der Gottheit der Götter und gerade auch des biblischen Gottes selbst gemacht (V. 8). Auf diesem Hintergrund wird vor allem ani / anaw geradezu zu einem Ehrentitel: Mose als Mann war aber übermäßig demütig (Num 12,3). Wenn hier und sonst gelegentlich (Ps 25,9) eine Übersetzung mit demütig nahe liegt, sollten die sozialen Zusammenhänge nicht aus dem Blick geraten: es geht um Demut im Sinne der Solidarität mit den Gedemütigten.

tapeinos, tapeinosis: Die Wörter der griech. Wortgruppe haben eine große Bedeutungsbreite. Aus dem Zusammenhang lässt sich jeweils erkennen, ob gesellschaftliche Erniedrigung / gewaltsame Unterdrückung oder Demut vor Gott und den Menschen gemeint ist. Nach Lk 1,46-55 ist Maria eine erniedrigte Frau, die Gewalt erlitten hat. Es ist möglich, dass das Wort eine Vergewaltigung andeutet. Gott hat Marias Erniedrigung gesehen und sie beendet. Die Erhöhung der Erniedrigten durch Gott ist Quelle der Hoffnung und grundlegende Gotteserfahrung, deren Spuren in der Geschichte des Volkes Israel und des Lebens Einzelner zu finden sind. Für diejenigen, die über Privilegien in der Gesellschaft verfügen, bedeutet Gottes Parteilichkeit für die Erniedrigten, dass sie auf Herrschaft verzichten (sich selbst erniedrigen, Lk 14,11; 18,14; Mt 18,4; 23,12), also Demut erlernen: zum Beispiel Freie, die Sklaven oder Sklavinnen besitzen (Lk 17,7-10; Phlm 16) oder freigeborene Männer, die von der Hierarchie in der Arbeitswelt profitieren (Mk 10,35-45; Joh 13,1-17). Demut geschieht in der tätigen Solidarisierung mit den Erniedrigten. Diese Demut hat Jesus, der Messias (↑ maschach) Gottes, vorgelebt (Mt 11,29; Phil 2,8). Die Erhöhung der Erniedrigten durch Gott beendet ungerechte Herrschaft (Lk 1,46-55).

Die verbreitete Übersetzung von tapeinosis in Lk 1,48 mit Niedrigkeit statt Erniedrigung hat zur Missdeutung der Erniedrigung Marias geführt. Mit dem Hinweis auf ihr Vorbild wurden Demut, Unterwerfung und Selbstpreisgabe als Frauentugenden begründet. (F. C. / L. S.)